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entbehrt auch jedes praktischen Interesses1. In diesem Zusammenhange bedeutsam ist allein, dafs Artikel II zur Vereinheitlichung der im Norddeutschen Bunde herrschenden Rechtszersplitterung und damit zur Festigung des Bundes insofern beigetragen hat, als über alle straf, militär- und staatsrechtlichen Verschiedenheiten der Einzelstaaten hinweg unter seinen Voraussetzungen sein Schutz im Gebiete des ganzen Bundes gewährleistet wird, und als der Bund als völkerrechtliche Einheit auftritt und anerkannt wird und einem auswärtigen Staate gegenüber auf Jahre hinaus vertragliche Pflichten übernimmt, welche auch nach innen hin eine einheitliche Regelung und damit die Kontrolle von deren Durchführung durch die Zentralgewalt des Bundes herbeiführen. Ob dies vielleicht der leitende politische Gesichtspunkt bei Annahme eines Vertrages, der die Vereinigten Staaten vor allen anderen Staaten und die nach dort auswandernden Norddeutschen vor allen andern auswandernden Norddeutschen begünstigt, gewesen ist?

d) Mag dem sein, wie ihm wolle, und mag man die Fahnenflucht unter jenen Schutz stellen, oder mag man dies insbesondere auf Grund ihrer Unverjährbarkeit für das 1868 geltende Militärstrafrecht ablehnen wollen, eines läfst sich für die Zeit des Vertragsabschlusses nicht bestreiten: Der Schutz des Artikels II betrifft strafrechtlich nur die Strafverfolgung, nicht die Strafvollstreckung. Und dem vielfach angegriffenen Beschlufs des bayrischen obersten Landesgerichts vom 9. Oktober 18882 ist im Ergebnis vollständig zuzustimmen. Man mufs nur die straf

1 Vgl. Rehm in den Annalen; Kletke S. 39; Falcke S. 3 f.; Boehlau S. 321 f.; Hamburger Sammlung, Anhang S. 247 f. Für Baden siehe Fr. Cahn in B.G. 1898 (Band 8) S. 320 f. Bei Vergleich der norddeutschen mit der süddeutschen Gesetzgebung ergibt sich freilich, dass die süddeutschen Staaten weniger Konzessionen machten als der Norddeutsche Bund, weil schon nach ihrem Landesrecht Auswanderung oder Naturalisation den Verlust der Staatsangehörigkeit bewirkte, also weitere Wirkungen herbeiführte als die Bancroftverträge selbst.

2 In Regers Entscheidungen der Gerichte und Verwaltungsbehörden Bd. 10 S. 60.

und staats- bezw. völkerrechtliche Seite der Bestimmung des Artikel II scharf auseinanderhalten1. Strafrechtlich galt im Jahre 1868 nach dem Preufsischen Strafrecht die Vorschrift, dafs rechtskräftig erkannte Strafen nicht verjähren. Der Strafausschliefsungsgrund des Artikels II, mag man ihn sonst auffassen, wie man will, hat mit der Verjährung dessen wichtigstes Charakteristikum gemein: Den Ablauf einer bestimmten Zeit, und mufs daher, wenn nicht selbst als eine Verjährungsvorschrift, so doch als eine dem Institut der Verjährung gleichstehende Bestimmung angesehen werden. Ist dies richtig, dann ist es ganz undenkbar, dafs der Artikel II mit dem geltenden Prinzip der Unverjährbarkeit von rechtskräftig erkannten Strafen brechen wollte, ohne dafs ausdrücklich eine solche Änderung gesetzliche Regelung gefunden hätte. Eine stillschweigende Aufhebung eines so weittragenden Rechtsgrundsatzes kann in keiner Weise angenommen werden. Dem widerspricht schon, worauf in jenem Beschluss mit Recht hingewiesen wird, jenes Ausführungsreskripta des Ministers des Innern vom 6. Juli 1868 und die Anweisung 3 des Justizministers vom 5. Juli 1868, sowie auch die durchgehende Praxis in dem Verkehr der deutschen mit der amerikanischen Diplomatie. Diese Praxis, die verwunderlicherweise allein aus amerikanischen Quellen zugänglich ist, geht, ohne einen Augenblick zu schwanken, seit Abschlufs des Vertrages von 1868 im Sinne jenes Reskriptes dahin, dafs unverjährte, rechtskräftig erkannte Strafen im Gnadenwege erlassen werden. So eigentümlich diese Praxis auch anmuten mag, da sie schliesslich darauf hinauskommt, dafs die Ausübung des Begnadigungsrechts, der freien Entschliefsung des Staatsoberhaupts, von Fall zu Fall sonst

1 Laband Bd. IV S. 132 Anm. 1 verabsäumt dies.

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2 Vgl. über Rechtsgrund und Bedeutung Hälschner Bd. II § 153; Köstlin S. 481 f.; Oppenhoff § 195; Temme § 103 S. 532 f.; Beseler S. 197.

3 Siehe Anl. VI, 1 und 2.

Papers relating to the Foreign Relations 1868–1903.

vorbehalten, völkerrechtliche Verbindlichkeit wird, so ist sie doch historisch und juristisch völlig begründet1.

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Man vergegenwärtige sich doch nur, dafs der Artikel II eigentlich zunächst nur die bona fide, insbesondere die vor dem 17. Lebensjahr Auswandernden vor Bestrafung bei der Rückkehr schützen wollte, und dafs dieser man kann fast sagen alleinige oder doch sicher Hauptzweck der Bestimmung gerade dann ganz erreichbar wurde, wenn die mala fide, insbesondere die nach dem 17. Lebensjahr Auswandernden im Kontumazialverfahren rechtskräftig und unverjährbar verurteilt werden konnten. Diese Unverjährbarkeit der im Kontumazialverfahren rechtskräftig erkannten Strafen gewährte eine Garantie gegen jene Delinquenten, die man nicht schützen wollte, und sie macht verständlich, wie die deutsche Regierung jene Verpflichtung übernehmen und jene gesetzliche Bestimmung des Artikel II einführen konnte. Dabei kommt aber einschränkend in Betracht, dafs sich die Regierung von vornherein auf den Standpunkt stellte, die bona fides sei zu präsumieren, wenn Naturalisation und fünfjähriger Aufenthalt der Auswanderung folgten, worauf später noch einmal zurückzukommen ist. Jedenfalls ist so dem Artikel II von vornherein und alsbald nach dem Abschlufs des Vertrages durch eine extensive Interpretation eine unglaubliche Tragweite gegeben worden, eine Interpretation, die durch die politischen Umwälzungen und die damit verknüpfte Rechtsentwickelung verständlich wird und in der Fassung und dem Wortlaute der Vorschrift seine Begründung findet.

Man sehe sich doch einmal den unglücklichen Wort

1 Vgl. Krieg S. 34.

2 Die in Art. II ausgesprochene Regel ist an sich überhaupt völkerrechtlich und strafrechtlich selbstverständlich. Die Ausnahme von der Regel sollte dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dafs man die Regel aufstellte. Es ist alsdann der Schlufsfolgerung überlassen, den Umfang der Ausnahmen durch Negation der Regel zu finden. Dagegen war es eigentlich die Aufgabe, für diese Negation der Regel eine Formulierung zu geben und sie nicht der Auslegung zu überlassen.

laut an: soll zur Untersuchung und Strafe gezogen werden können, sofern nicht nach den bezüglichen Gesetzen seines ursprünglichen Vaterlandes Verjährung eingetreten ist." Mit dem letzten halben Satze hat man nie recht etwas anzufangen gewufst. Schon Schleiden hat in dem Norddeutschen Reichstage bei Beratung des Vertrages eingewendet, der ganze Satz sei vollkommen überflüssig, denn wenn der Zurückkehrende nach den heimischen Gesetzen beurteilt werden solle, so komme es natürlich nur auf diese an; wenn das heimische Gesetz wegen Verjährung oder aus irgend einem andern Grunde keine Strafe erkenne, so könne eine solche auch nicht eintreten". Offenbar ist dies vom Standpunkt der Strafverfolgung aus gesagt und insofern auch ganz zutreffend. Stellt man sich aber auf den Standpunkt der Strafvollstreckung, so hat jener halbe Satz einen bisher nirgends bemerkten bedeutsamen Sinn: Er ruft nämlich die strafrechtliche Bestimmung in Erinnerung, dafs es eine Verjährung von rechtskräftig erkannten Strafen nicht gibt und besagt also: Die Einschränkung: „sofern nicht . . Verjährung eingetreten ist" setzt logisch voraus, dafs überhaupt eine Verjährung in Frage kommt, und schliefst alle die Fälle überhaupt von der Vorschrift aus, bei denen von Verjährung keine Rede sein kann. Man kann dies auch noch anders durch einfache Umstellung der Negation ausdrücken: Sofern Verjährung eingetreten ist, soll kein Naturalisierter, der die erforderlichen Voraussetzungen des Artikels II erfüllt hat, zur Untersuchung und Strafe gezogen werden können. Verjährung ist aber nach dem 1868 geltenden Strafrecht immer nur Strafverfolgungsverjährung. Die Vollstreckung rechtskräftig erkannter Strafen wird also durch die Vorschrift gar nicht berührt. Wollte man unter den Worten: „zur Strafe gezogen werden kann“ die Strafvollstreckung mit begreifen, so würde der folgende halbe Satz nicht blofs überflüssig sein, nein, er würde sich mit dem vorhergehenden gar nicht vereinigen

lassen, er würde einen Unsinn enthalten, insofern er die Verjährung einer Strafvollstreckung logisch voraussetzt, obgleich diese gesetzlich nicht existiert. Also wird die Vollstreckung einer Strafe, die gegen einen Naturalisierten, der sich fünf Jahre ununterbrochen in den Vereinigten Staaten aufgehalten hat, wegen eines nicht vor der Auswanderung begangenen Deliktes in seiner Abwesenheit rechtskräftig erkannt ist, durch Artikel II nicht berührt, oder doch nur insofern die Vollstreckung durch die gleichsam zugesagte Begnadigung erlassen wird. Diesen Rechtsgrundsatz oder -zustand hat die deutsche Diplomatie insbesondere durch die bekannten Ministerialerlasse vom Juni und Juli 1868 formell anerkannt, materiell aber von vornherein illusorisch gemacht, indem nach ihrer Praxis in Fällen der Strafverfolgung wie der Strafvollstreckung schliesslich durch Begnadigung ein Stillstand des Verfahrens und Rückgabe der etwa schon eingetriebenen Geldstrafe herbeigeführt wird1.

IX. Die Begriffe des Art. II und die Rechtsentwicklung im einzelnen.

Jener 1868 geltende Rechtszustand hat aber nun mit der Einigung des Reiches und der Einführung bestimmter Reichsgesetze eine Entwickelung durchgemacht.

a) Zunächst ist mit Einführung des Str.G.B. und des M.Str.G.B. auch die Strafvollstreckung verjährbar geworden. Damit ist in der Tat der obige Schlufshalbsatz des Artikel II ganz überflüssig geworden, wenn man sich nicht auf den Standpunkt stellt, dafs die nachträglich eingetretene gesetzliche Verjährbarkeit der Strafvollstreckung auf die Interpretation der Bestimmung des Artikel II keinen Einfluss

1 Der im Reichsanzeiger vom 24. Oktober 1888 und bei Cahn S. 179 Anm. e veröffentlichte Erlafs des Grofsh. hessischen Staatsministeriums vom 10. Oktober 1888 steht inhaltlich mit den oben bezeichneten Ministerialerlassen sicherlich im Widerspruch und ist auch historisch und juristisch nicht begründet, wenn man ihn juristisch und nicht als eine praktische Verwaltungsanweisung auffafst.

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